5. Mai 2002

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Hochrangiger Rinpoche wegen angeblicher Verwicklung in "Bombenattentate" festgenommen

Ein charismatischer buddhistischer Lehrmeister, Tenzin Deleg Rinpoche (Laienname Ngawang Tashi), wurde unter dem Verdacht der Beteiligung an Bombenexplosionen in der Tibetischen Autonomen Präfektur Kardze (chin. Ganzi) in der Provinz Sichuan (die ehemalige tibetische Region Kham) festgenommen. Die Verhaftung des Rinpoche ist im Zusammenhang mit der verschärften Kontrolle religiöser Aktivitäten in Osttibet zu sehen.

Der 52-jährige Tenzin Deleg Rinpoche aus dem Distrikt Lithang (chin. Litang) in der TAP Kardze wurde Anfang April festgenommen, und es ist nicht bekannt, wohin er gebracht wurde oder wie sein Zustand ist. Man nimmt an, daß mindestens drei seiner Studenten ebenfalls festgenommen wurden. Verlautbarungen aus der Gegend zufolge verdächtigen die Behörden Rinpoche der Beteiligung an drei Bombenattentaten in der Präfektur Kardze, sowie an einer kleineren Bombenexplosion in Chengdu am 3. April (siehe: www.tibetinfo.net/news-updates/2002/2404.htm). Ein Tibeter meinte TIN gegenüber: "Die Behörden scheinen in ihrer Beschuldigung sehr vage zu sein; sie sagen nicht, daß er die Bomben gelegt habe, sondern daß er in einer Art von Verschwörung verwickelt gewesen sei".

Es ist bekannt, daß die Behörden in Kardze schon seit einiger Zeit wegen des wachsenden Einflusses von Tenzin Deleg Rinpoche in der Gegend Bedenken hatten und daß sie ihn auch der geheimen Verbindung mit dem Dalai Lama verdächtigten. Der Rinpoche wurde bereits nach einem 5-jährigen Aufenthalt in Indien von 1982-1987, wo er am Drepung Kloster in Südindien studiert hatte, politisch intensiv überwacht. Er war vom Dalai Lama als Reinkarnation eines hohen religiösen Gelehrten im Kloster Lithang erkannt worden. Nach seiner Rückkehr aus Indien wurden ihm von offizieller Seite zunehmend Hindernisse in den Weg gelegt. Als die lokalen Behörden gegen seine Pläne zur Errichtung eines neuen Klosters (Jamyang Choekhor Ling) in seiner Heimat Nyagchu (eine Nomadengegend, die nach dem Fluß des Landkreises benannt ist) in Lithang Einwände erhoben, reiste der Rinpoche nach Peking, wo er die Erlaubnis zum Bau des Klosters vom 10. Panchen Lama erhielt. Es war ein Jahr vor dessen Tod 1989.

In den 90er Jahren half Tenzin Deleg Rinpoche der örtlichen Bevölkerung bei dem Bau verschiedener kleiner Klöster, darunter auch eines Nonnenklosters. Aber er kümmerte sich auch um die Erziehung von Kindern aus armen Familien, für die er Unterkünfte bereitstellte. Die Kreisbehörden verweigerten ihm in einem von Nomaden besiedelten Gebiet die Erlaubnis zum Bau einer Schule und eines Altenheimes. Ende der 90er Jahre richtete er jedoch in Lithang mit Erfolg eine Schule sowohl für tibetische als auch chinesische Waisenkinder ein, so daß mindestens 130 Schüler in Tibetisch, Chinesisch, Rechnen, Musik und Sport unterrichtet werden konnten.

1998 machten die Lokalbehörden einen ersten Versuch, den Rinpoche in Haft zu nehmen, mit der Begründung, er habe neue Klöster "in Eigeninitiative errichtet und die Lehre des Lamaismus ohne die Billigung der Staatsregierung verbreitet" und außerdem gegen die "anerkannten politischen Prinzipien des Staates" verstoßen (aus einem tibetisch-sprachigen Bericht auf der Website Tibetan Freedom der tibetischen Exilregierung vom 22. April). Sie hegten auch Verdacht, der Rinpoche könnte insgeheim Anführer einer populären Protestbewegung gegen die von einer Holzfirma betriebene Abholzung in der Gegend sein.

Obwohl es ein großes Risiko für sie bedeutete, richteten die Tibeter aus der Gegend eine Petition zugunsten von Tenzin Deleg Rinpoche an die Regierung. TIN gelangte in den Besitz einer Kopie dieses auf Chinesisch abgefaßten Dokuments; in der ersten Zeile ist von all dem Positiven die Rede, was Rinpoche in der Gegend und im Hinblick auf die sozialen Probleme geleistet hatte. Es heißt weiter, daß dank der Belehrungen Rinpoches und seiner Geschicklichkeit als Vermittler in der Gegend sowohl die Verbrechen als auch die Spannungen zwischen Tibetern und Chinesen abgenommen hätten. "Er sagt nie, daß eine besondere Nationalität gut und eine andere schlecht sei. Im Allgemeinen war das Ziel seiner religiösen Lehrtätigkeit: erstens uns zu guten Werken anzuspornen und von schlechten Taten abzuhalten, zweitens lehrte er uns, die Alten zu achten und die Jungen zu lieben und drittens mahnte er uns die ganze Zeit, nicht gegen die Parteipolitik zu verstoßen." Diese von mehreren tibetischen und chinesischen Familien unterzeichnete Petition schließt mit der Bitte an die lokalen Behörden, ein "gutes Urteil" über Rinpoche zu fällen. Später konnte der Rinpoche von dem Ort, wohin er sich geflüchtet hatte, zurückkehren.

Nachdem die Behörden 2000 dem Rinpoche den Befehl zur Schließung der Schule in Lithang erteilt hatten, versuchten sie erneut ihn zu verhaften. Tenzin Deleg Rinpoche verließ ein weiteres Mal die Gegend, und wieder sollen die Bewohner des Ortes ihre Namen zu seinen Gunsten unter eine Petition gesetzt haben. Die Behörden reagierten auch diesmal positiv auf ihre Bitte, obwohl sie nun die Bedingung stellten, daß Tenzin Deleg nach seiner Rückkehr "das ruhige Leben eines gewöhnlichen Mönches" führen müßte, ohne sich mit irgendwelchen "politischen" Aktivitäten zu befassen. Sie schränkten auch etwas seine Bewegungsfreiheit ein (Tibetan Freedom, 22. April). TIN zitiert die tibetische Quelle: "Als der Rinpoche zurückkehrte, kamen viele Leute, um ihn zu begrüßen. Es war eine sehr rührende Szene". Nach 2000 reiste Tenzin Deleg Rinpoche durch die ganze Präfektur Kardze, um Belehrungen zu geben. Die Berichte seiner Anhänger, daß er immer bescheiden und ohne großes Gefolge umherzog, vermitteln den Eindruck eines Menschen, der den materiellen Dingen keinen großen Wert beimaß und sich nicht um seinen Status kümmerte.

Es heißt, die Bevölkerung der Gegend sei tief bekümmert über die unlängst erfolgte Festnahme Tenzin Deleg Rinpoches. Aus derselben Quelle verlautet nach TIN: "Die Behörden haben schon früher versucht den Rinpoche gefangenzusetzen, aber diesmal wissen die Leute, daß die Sache ernst ist. Ich hörte, daß die Leute angesichts der derzeitigen politischen Situation dermaßen verängstigt sind, daß sie nicht gegen seine neuerliche Verhaftung zu protestieren wagen". Seit dem Terroranschlag auf das World Trade Centre in New York am 11. September 2001 hat die chinesische Regierung viele mutmaßliche "ethnische Separatisten" als "Terroristen" gebrandmarkt. Eine Änderung des Strafgesetzes der VR China vom Dezember 2001 erhöht die Haftstrafen für Personen, die "eine Terrororganisation gründen oder führen" von bisher drei bis zehn Jahren auf zehn bis lebenslänglich (Art. 120 des Strafgesetzes). Der Begriff "Terrororganisation" wird in dem Gesetz nicht definiert, und er könnte auch dahingehend interpretiert werden, daß er religiöse und andere Gruppen einschließt, die, obwohl sie sich offensichtlich keiner gewaltsamen Aktivitäten schuldig gemacht haben, als in Opposition zum Staat stehend wahrgenommen werden.

Die Verhaftung von Tenzin Deleg Rinpoche läßt vermuten, daß populäre religiöse Führer in Tibet von den Behörden als eine Bedrohung empfunden werden, nur weil sie den Respekt und das Vertrauen der Bevölkerung gewonnenen haben, das ihnen fehlt. Das scheint sogar dann der Fall zu sein, wenn diese religiösen Lehrer die Autorität des Staates anerkennen, sich als lokale Vermittler engagieren, und indem sie moralischen Werte vermitteln, die "Harmonie zwischen den Nationalitäten" fördern und soziale Probleme lösen, also auf eine Weise handeln, die mit den Grundsätzen der CCP zu vereinbaren ist. Diese Tendenz wurde schon in der Provinz Qinghai (welche die traditionelle nordöstliche tibetische Gegend Amdo einschließt) sichtbar, wo mehrere religiöse Schlüsselfiguren und Gelehrte, die sich oft mit der stillschweigenden Billigung und dem Respekt tibetischer Kader und Regierungsbediensteter für das Gemeinwohl engagiert hatten (siehe: www.tibetinfo.net/news-updates/nu141099.htm), in den letzten Jahren hinter Gitter gesetzt wurden. Die Festnahme von Tenzin Deleg Rinpoche ist ein Zeichen dafür, daß die harte Linie in Kham fortgesetzt wird, wie man an der Verschleppung des hochgeachteten Lehrmeisters Khenpo Jigme Phuntsok aus dem tibetisch buddhistischen Institut Serthar im Larung Gar Tal, Präfektur Kardze (www.tibetinfo.net/news-updates/2002/1804.htm) und an der Verhaftung des hochrangigen religiösen Lehrers Sonam Phuntsok, der wegen eines angeblichen Bombenattentats auf eine Klinik in Kardze zu 5 Jahren Gefängnis verurteilt wurde (www.tibetinfo.net/news-updates/nu171199.htm), sehen kann.

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